Es schreibt: Jakub Sichálek

(Echos, 19. 9. 2016)

Doppelheimat I

 

Für Arne Novák sind die alttschechischen Ependichtungen aus der Ära der Luxemburger Beispiele einer sklavischen Nachahmung fremder Literatur. Für Roman Jakobson indes deutet keines der unter den Königen Johann und Karl entstandenen literarischen Werke auf eine deutsche Vorlage hin. Weder das eine noch das andere ist wahr: Aus ihrer vermeintlichen Vasallenstellung befreit wurde die alttschechische Literatur von Nováks Zeitgenossen Franz Spina und Jan Vilikovský. Jakobsons Äußerungen hingegen ignorieren vollkommen die bekannten, nach deutschen Vorbildern entstandenen tschechischen Ritterromane (wie z. B. Tristram a Izalda, Vévoda Arnošt u. a.).

 

Nováks wie Jakobsons Standpunkt sind rhetorische Verkürzungen und dienten den Autoren vor allem zur Stützung anderer, umfassenderer Thesen, die den Wert des älteren Schrifttums davon abhängig machten, in welchem Maße sich dessen empfundene ästhetische Qualitäten oder sein ideeller Gehalt mit den kulturellen und politischen Bedürfnissen der Gegenwart deckten. Wie irreführend solch eine Sichtweise ist, zeigt sich an der Bewertung der alttschechischen Ritterepik aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts: Die Vorstellung, dass diese sklavisch deutsche Vorlagen nachahme, disqualifizierte sie in den Augen der meisten tschechischen Literaturhistoriker bis weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus.

 

Ich möchte mich jedoch weder speziell mit der Ritterepik noch mit dem konkreten Kontext von Nováks und Jakobsons Überlegungen befassen (wenngleich es sich dabei zweifellos um wichtige und interessante Themen handelt). Mein Thema ist vielmehr die literaturgeschichtliche Reflexion der im Mittelalter in den böhmischen Ländern entstandenen deutschsprachigen Literatur bzw. die Reflexion der deutsch-tschechischen Literaturkontakte. Angeregt haben mich hierzu vor allem zwei unlängst erschienene Ausgaben von Jakobsons Essay Moudrost starých Čechů [Die Weisheit der alten Tschechen] (vgl. dazu das Echo vom 20. 1. 2016).

 

Der Blick auf die Geschichte der mittelalterlichen Literatur Böhmens durchlief in den 1920er und 30er Jahren einen starken konzeptuellen Wandel, geprägt durch eine reflektierte Einbeziehung der hier entstandenen kirchenslawischen, lateinischen wie auch deutschen Texte in die tschechische Literaturgeschichte. Begleitet wurde dieser Wandel von der Entwicklung der modernen Philologien in ihrer sprach- und literaturhistorischen Perspektive, von innovativen einheimischen, teilweise auf Deutsch erscheinenden Wissenschaftszeitschriften (Naše věda, Byzantinoslavica, Slavische Rundschau, Germanoslavica u. a.), von einer regelmäßigen Berichterstattung über die in- und ausländische Buch- und Zeitschriftenproduktion sowie von der Zusammenarbeit bzw. Konkurrenz deutscher und tschechischer Slawisten und Germanisten (insbesondere an den beiden Prager Universitäten). Charakteristisch ist zudem das Bemühen um eine formal-strukturelle, stilistische und funktionale Analyse alttschechischer Texte – vor allem im Kontext des mittellateinischen, byzantinischen, kirchenslawischen und europäischen vernakulären Schrifttums (und somit auch in Beziehung zu tschechischen Vorbildern und Parallelen). All dies spiegelte sich u. a. im editorischen Umgang mit alttschechischen Texten wider, die nun – wie die Beispiele V. Vančuras, J. Palivec, F. Kubkas u. a. belegen – auch einen breiteren Leserkreis einschließlich zeitgenössischer Schriftsteller ansprachen.

 

Das Ende jener bedeutsamen Ära eines relativ freien literaturwissenschaftlichen Denkens, das sich allmählich von nationaler Demagogie zu lösen begann, markierten am Vorabend des Zweiten Weltkriegs Konrad Bittner (1890‒1967) und dessen markantester Opponent Roman Jakobson (1896‒1982) mit ihren Standpunkten bezüglich der deutsch-tschechischen Kontakte: Der Deutschmähre Bittner, einer der führenden Slawisten der Prager deutschen Universität, der in seinem Buch Deutsche und Tschechen. Zur Geistesgeschichte des böhmischen Raumes (1936) die deutsch-tschechische Literaturgeschichte bis zur zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts verfolgte, sah eine Abhängigkeit der tschechischen Literatur von der deutschen sowie deutsche literarische Einflüsse auch da, wo sie nicht waren. Der russische Slawist Jakobson hingegen wollte sie – in Reaktion auf Bittner und auf die Kriegsereignisse – selbst dort nicht sehen, wo es sie tatsächlich gab.

 

Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die Entwicklung schnell eine neue Richtung, insbesondere was die Gegenstandsbestimmung der tschechischen Literaturgeschichte betraf: Für deutschsprachige Bohemica war hier kein Platz. Dies zeigte sich sowohl in der sogenannten akademischen Geschichte der tschechischen Literatur (1959), die in erster Linie ein neues Vorgehen bei der Bewertung der alten Literatur und ihrer Entwicklung demonstrieren sollte, als auch in einem lange vorbereiteten Editionsprojekt: der insgesamt dreibändigen Publikation Výbor z české literatury [Anthologie der tschechischen Literatur], die sich mit der Literatur bis zur zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts befasste (1957, 1963, 1964). Letztere enthielt zwar Schriftzeugnisse in einer illustrativen Genrebreite, vermittelte jedoch ein sprachlich stark reduziertes Bild des literarischen Lebens in den böhmischen Ländern, da z. B. das deutsche und das hebräische Schrifttum fehlt.

 

Es bleibt ein sonderbares Paradox, dass sich dieser neuen Auffassung, die den deutschen Einfluss marginalisierte, auch Forscher anschlossen, deren vorherige wie aktuelle Arbeiten bzw. politischen Standpunkte innerhalb der neuen Wissenschaftskonzeption bald ebenso unerwünscht sein sollten: so z. B. der bereits erwähnte Roman Jakobson, Albert Pražák (1880‒1956) oder Václav Černý (1905‒1987). Ähnlich wie Jakobson lehnten auch Pražák und Černý in ihren während des Krieges entstandenen Monografien zur alttschechischen Alexandreis oder zur alttschechischen Liebeslyrik übereinstimmend einige Schlussfolgerungen aus Bittners Buch Deutsche und Tschechen ab. So befassten sich Pražák wie Černý am Beispiel der Alexandreis bzw. der alttschechischen Liebeslyrik mit der Einordnung der tschechischen Literatur in die europäische Kultur und stellten einige phantastische Thesen auf, die vor allem den Einfluss der deutschen Kultur auf die tschechische abschwächen sollten.

 

Bittners 1936 entstandene Arbeit über die deutsch-tschechischen Literaturbeziehungen wurde im tschechischen Milieu bald nach ihrem Erscheinen als methodologisch wie interpretatorisch antiquiert aufgefasst. Bei einem Teil der deutschen Slawisten blieb sie jedoch – trotz der prinzipiellen Einwände, die ihr in der damaligen Tschechoslowakei entgegengebracht wurden (und auf die ich in einem weiteren Echo zurückkommen werde) – in einem gewissem Maße einflussreich (wenngleich auch hier bald Vorwürfe laut wurden, die Bittner in Anknüpfung an die tschechische Polemik unterstellten, sein Buch sei eine Kompilation an der Grenze zum Plagiat). In seinem bibliografischen bzw. faktografischen Nutzen für ausländische Leser wurde das Buch erst 1978 durch die bekannte und geschätzte Monografie des Slawisten Winfried Baumann (geb. 1944) Die Literatur des Mittelalters in Böhmen: Deutsch-lateinisch-tschechische Literatur vom 10. bis 15. Jahrhundert abgelöst. Mit der Frage der deutsch-tschechischen Literaturbeziehungen selbst befasste sich 20 Jahre nach Bittner knapp und übersichtlich (bis zum 20. Jahrhundert) der Münchener Slawist und Balkanforscher Alois Schmaus (1901‒1970), der übrigens auch ein Semester an der Prager tschechischen Universität studiert hatte und sich gelegentlich wissenschaftlich mit der tschechischen Literatur befasste. In der ersten Version seiner kurzen Skizze Tschechisch-deutsche Literaturbeziehungen (1957) berief sich Schmaus dabei noch ausdrücklich auf Bittners kontroverses Buch – womit er den Unwillen des damaligen tschechischen Rezensenten J. Daňhelka erregte.

 

Weniger akademisch als die Abhandlungen Schmaus‘ und Baumanns waren die Reaktionen deutscher Bohemisten auf die oben erwähnte Anthologie tschechischer Texte wie auch auf weitere Editionen (näher befasst habe ich mich damit an anderer Stelle, vgl. Slovo a smysl 11, 2014, Nr. 22, S. 86‒92). Gleiches gilt für die germanobohemistischen Beiträge Pavel Trosts (1907‒1987), der sich – anders als z. B. seine Germanisten-Kollegen Leopold Zatočil (1905‒1992) und Emil Skála (1928‒2005) – nie von der Konzeption Josef Hrabáks (1912–1987) beeinflussen ließ. Hrabák, der wohl agilste Vertreter der literaturwissenschaftlichen Paläobohemistik der Nachkriegszeit, beschrieb das Verhältnis zwischen dem deutschen und tschechischen Schrifttum – ähnlich wie bereits A. V. Kraus oder V. Flajšhans – wiederholt mit den Begriffen der Konkurrenz und des Wettbewerbs, schloss dabei jedoch deutsche Bohemica aus der Entwicklung der tschechischen Literatur aus. Am kompaktesten (wenngleich für seine Verhältnisse an sich eher marginal) behandelte er dieses Thema in einem Reader mit dem diesbezüglich paradoxen Namen Polyglotta (1971).

 

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts herrschte in der tschechischen Literaturgeschichtsschreibung bezüglich des mittelalterlichen Schrifttums einerseits Ignoranz (bzw. mangelnde Berücksichtigung) gegenüber dem einheimischen deutschsprachigen Schaffen, gepaart mit einer Unterschätzung der deutsch-tschechischen Literaturkontakte. Andererseits machte sich in Reaktion darauf (z. B. bei K. Doskočil oder J. Tříška) eine Beschwörung des Trilingualismus und trilingualer Autoren bemerkbar, die mit schablonenhaften Formulierungen über das lateinisch-deutsch-tschechische literarische Leben in den böhmischen Ländern des Mittelalters einherging, ohne dass der passive Trilingualismus vom aktiven unterschieden und die Kategorie der Mehrsprachigkeit selbst historisch problematisiert und konzeptuell präzisiert worden wäre. Das dabei oftmals synekdochisch angeführte Beispiel des Jan Milíč von Kroměříž ist aus quellenkritischer Sicht mehr als strittig...

 

Die veränderten gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Bedingungen seit den 1990er Jahren ermöglichten wieder eine offene Diskussion über die deutschsprachigen Bohemica des Mittelalters wie auch über die deutsch-tschechischen Literaturkontakte. Dabei handelte es sich jedoch nicht nur um eine aktuell bestehende Möglichkeit, sondern vielmehr um eine Notwendigkeit im Rahmen einer historischen Verantwortung der sich neu formierenden Zivilgesellschaft bzw. im Rahmen einer intellektuellen Verantwortung, die jedoch nur von einer Handvoll besonders reflektierter Forscher als Verpflichtung aufgefasst wurde. Erinnert sei hier z. B. an die von Jindřich Pokorný (1927‒2014) herausgegebenen Ianua-Sammelbände mit ihrem wertvollen bibliografischen Teil oder an die beiden Bände Deutsche Literatur des Mittelalters in und über Böhmen (2001, 2004), initiiert von Václav Bok (geb. 1939), der zu Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn noch von Hrabáks Definition der deutsch-tschechischen Literaturbeziehungen auf dem Gebiet der böhmischen Länder ausgegangen war. 1994 begann man erneut mit der Herausgabe der Zeitschrift Germanoslavica. Die Zahl publizierter Übersetzungen stieg (am wichtigsten ist hier wohl ein kommentierter Sammelband deutscher Lyrik, die am Hofe der letzten Přemyslidenkönige entstanden oder anderweitig mit diesem verbunden ist: Moravo, Čechy, radujte se! [Mähren, Böhmen, freuet euch! Der Titel bezieht sich auf eine Gedichtzeile Ulrich von Etzenbachs aus dessen Wilhelm von Wenden: „Fröuwe dich, Merhern, Bêheimlant!“ A. d. Ü.], Praha 1998). Und auch eine deutsche Reimübersetzung der tschechischen Dalimil-Chronik wurde inzwischen wissenschaftlich analysiert und herausgegeben.

 

Übersetzung: Ilka Giertz


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