Es schreibt: Václav Smyčka

(5. 9. 2016)

Das Verfassen einer mehrbändigen Gesamtdarstellung zur Geschichte eines Landes ist für einen Historiker eine der größten intellektuellen Herausforderungen. Das Verfassen eines Geschichtswerks für fachunkundige Leser und auf dem begrenzten Raum eines einzigen schmalen Bandes scheint mir jedoch ein noch gewagteres Unterfangen. Ein Versuch einer solch konzentrierten Gesamtdarstellung der tschechischen Geschichte auf minimalem Raum ist das in der Edition Wissen des Münchener Verlags Beck (2014) erschienene Buch Geschichte Tschechiens, dessen Verfasser Joachim Bahlcke als Professor für Geschichte der frühen Neuzeit an der Universität Stuttgart tätig ist. Wie im Untertitel des Buches angekündigt, hat sich der Autor zum Ziel gesetzt, dem Leser auf bloßen hundertzwanzig ca. oktavheftgroßen Seiten die tschechische Geschichte „vom Mittelalter bis zur Gegenwart“ darzustellen. Wie ist Bahlcke nun mit dieser schwierigen Aufgabe umgegangen und wie hat er die dafür erforderliche extreme Reduzierung des Materials bewältigt? Ist es ihm gelungen, seine Leser „anspruchsvoll, knapp und kompetent“ über das gegebene Thema zu informieren, wie die Rahmendefinition der Edition Wissen verspricht? Wie meistert er die Gefahr zu einfacher Lösungen und fest verwurzelter Masternarrative, die oft gerade dann zu Wort kommen, wenn es vom Detail des historischen Stoffes zu abstrahieren gilt?

 

Die erste Schwierigkeit, mit der Bahlcke konfrontiert war, ist bereits die Bezeichnung des behandelten Gegenstands. Während Manfred Alexander, Autor einer vergleichbaren Gesamtdarstellung der tschechischen Geschichte aus dem Jahr 2008 (Kleine Geschichte der böhmischen Länder) oder Petr Čornej und Jiří Pokorný, die 2003 eine ähnliche Arbeit verfassten, die Bezeichnung „böhmische Länder“ („české země“) gewählt haben, tendiert Bahlcke zu der heutigen Kurzbezeichnung des Staates: Tschechien. Er ist sich jedoch sehr wohl bewusst, dass „Tschechien – die 1993 gegründete Tschechische Republik – [...] ein junger Staat im östlichen Mitteleuropa, und doch ein Land mit einer über tausendjährigen, wechselvollen Geschichte“ (S. 7) ist. Wenngleich sich Bahlcke also letztlich für die aktuelle, zur Beschreibung der historischen Entwicklung des Landes jedoch wenig geeignete Bezeichnung „Tschechien“ entschieden hat, illustriert er am Beispiel der vielen weiteren Namen des Landes bzw. Staatsgebildes, die die Entwicklung der politischen Konzeption und die ideologischen Positionen der Vergangenheit widerspiegeln, anschaulich die historische Wandelbarkeit einer staatlichen Ordnung. Insbesondere anhand der verschiedenen sprachlichen Versionen und Titel von Palackýs Geschichte von Böhmen verdeutlicht Bahlcke dem Leser in der Einleitung – zumindest andeutungsweise – die komplizierte Entwicklung der nationalen, ethnischen, regionalen und staatlichen Identitäten auf dem Gebiet des heutigen „Tschechien“.

 

Ein weiteres Problem, dem sich Bahlcke stellen musste, ist die Auswahl der Themen, Persönlichkeiten und historischen Ereignisse, mit denen er sich auf engem Raum befasst. Auch hier bietet sich ein Vergleich mit Čornejs und Pokornýs Buch Stručné dějiny českých zemí (dt.: Kurze Geschichte der böhmischen Länder bis zum Jahr 2000. Prag 2000) an. Bemerkenswert ist bereits, wo Bahlcke mit seiner Darstellung der tschechischen Geschichte einsetzt und wie er die frühmittelalterliche Geschichte darstellt: Während Čornej und Pokorný ihre Geschichte der böhmischen Länder bereits in der Frühzeit beginnen und dann mit traditionellen Meilensteinen des nationalen Masternarrativs wie dem „Samo-Reich“, „Großmähren“ etc. fortführen, lässt Bahlcke das historisch unzureichend belegte „Samo-Reich“ weg und widmet dem Großmährischen Reich nicht mehr als einen Satz. Čornej und Pokorný hingegen ignorieren den ältesten Bericht über die Taufe von vierzehn böhmischen Fürsten in Regensburg, die Bahlcke folgendermaßen kommentiert: „Dass sich im Jahr 845 in Regensburg mehr als ein Dutzend böhmische Stammesfürsten taufen ließen, bedeutete nicht nur den Anschluss an die Reichskirche, sondern faktisch auch eine Anerkennung der ostfränkischen Oberheit.“

 

Dies heißt jedoch nicht, dass Bahlcke in seiner Darstellung die Eigenständigkeit in der Entwicklung des tschechischen Staatswesens abschwächt – im Gegenteil: An zahlreichen anderen Stellen verteidigt er das Handeln der tschechischen Ständevertretung, so z. B. in den Konflikten mit den Habsburger Herrschern in den Jahren 1546/47 oder 1618/19. In vielem zeugen diese Abweichungen eher davon, wie sehr unser fest verwurzeltes Geschichtsnarrativ noch immer aus seiner identitätsbildenden mythisierenden Funktion schöpft. Bahlcke ist bestrebt, den Fehler einer Projektion moderner nationaler Aspekte auf die Vergangenheit zu vermeiden, und verfolgt daher bilaterale Beziehungen, Selbstdefinitionen sowie die Formung einer ganzen Reihe verschiedener Identitäten, sei es anhand des regionalen Antagonismus zwischen Böhmen und Mähren, der gesellschaftlichen Stellung der jüdischen Minderheit, die sich im Laufe der Neuzeit an verschiedene Sprachen assimilierte, oder schließlich anhand der Beziehungen zwischen der deutschsprachigen und der tschechischsprachigen Bevölkerung. Gerade der letztgenannten Beziehung widmet er – wieder im Gegensatz zu Čornej und Pokorný – relativ viel Raum. Er verfolgt (obschon vielleicht zu knapp) das im 18. Jahrhundert und selbst in der Vormärzzeit national noch undifferenzierte Milieu der Gelehrtengesellschaften, die „Selbstverständlichkeit“, mit der „Deutsche und Tschechen“ in „intellektuellen Zirkeln, Salons und wissenschaftlichen Vereinigungen zusammen[wirkten]“ (S. 66). Er schildert die Trennung der bis dahin eng miteinander verwobenen sprachlichen Milieus im Jahr 1848 und die immer vergeblicheren Versuche eines sprachlichen Ausgleichs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dabei spricht Bahlcke mehrmals von „Parallelgesellschaften“, die sich ihm zufolge bereits in der Vormärzzeit bildeten (S. 71). Mit der Konzentration auf die Frage der deutsch-tschechischen Beziehungen bringt er dieses schwierige und konfliktträchtige Thema auch dem fachunkundigen Leser nahe.

 

Finden sich bezüglich der mittelalterlichen oder neuzeitlichen Geschichte – trotz einiger Vereinfachungen – noch immer zahlreiche kleine innovative Abweichungen, die uns über die historische Relevanz einiger Momente des nationalen Masternarrativs nachdenken lassen und der traditionellen Erzählung in der Darbietung Čornejs und Pokornýs in erfrischender Weise den Spiegel vorhalten, so tendiert Bahlckes Darstellung der neuesten tschechischen Geschichte nach 1948 zu einer etwas schematischen Sichtweise. Das „kommunistische Regime“ und die „Partei“ treten hier als Monolith auf, dem eine scheinbar homogene „Gesellschaft“ gegenübersteht. Und obgleich es Bahlcke relativ gut gelingt, auf engem Raum die staatlichen Repressionen gegen Klassengegner und politische Opponenten zu schildern, vermag er es nicht, die wesentlich komplizierteren Beziehungen zu erfassen, die zwischen der Gesellschaft und den Herrschaftseliten ausgehandelt wurden. So findet sich zum Beispiel nirgends eine Angabe über den gesellschaftlich hohen Mitgliederanteil in der kommunistischen Partei und in Jugendorganisationen, über die Suche nach einer neuen Legitimierung der Partei in der zweiten Hälfte der 50er Jahre oder über den Alltag der sozialistischen Gesellschaft. Besonders abrupt ist der Übergang von der Niederschlagung des Prager Frühlings und den Repressionen nach der Besatzung des Landes durch Truppen des Warschauer Pakts zu den (bereits von Anfang an als Bewegung bezeichneten) dissidentischen Aktivitäten in der zweiten Hälfte der 1970er und 80er Jahre, wobei dem hohen Maß an gesellschaftlichem Konsens in den 70er Jahren und den erfolglosen Bemühungen eines Teils der Parteimitglieder um eine Reform Ende der 80er Jahre keine Aufmerksamkeit zuteilwird. Die Entwicklung der Ereignisse ab der Niederschlagung des Prager Frühlings läuft damit zu teleologisch auf den Sturz des Regimes 1989 hinaus.

 

Interessanter ist vielleicht ein Blick auf die am Ende des Buches zusammengefasste postrevolutionäre Entwicklung – denn dieser Stoff entbehrt bislang noch immer einer festen fachmonografischen Basis wie auch einer feststehenden Periodisierung. Bahlcke befasst sich hier – neben der Teilung der Tschechoslowakei – mit dem Zerfall und der nachfolgenden Konsolidierung der Wirtschaft während der 1990er Jahre, er erwähnt die Erneuerung der regionalistischen Bewegung in Mähren in den frühen 90er Jahren (und wendet sich damit abermals kurz der Identitätenfrage zu, die einen der roten Fäden des Buches bildet). Weiterhin erwähnt werden der Eintritt in internationale Organisationen und die Entwicklung der politischen Parteien nach dem Jahr 2000. Den größten Raum nimmt hierbei die Partei TOP 09 ein, über deren Programm, Wahlergebnisse und über deren Vorsitzenden Karel Schwarzenberg Bahlcke ausführlicher schreibt als über andere Parteien. Es ist daher auch kein Wunder, dass die letzten Zeilen des schmalen Bandes gerade Schwarzenbergs knapper Niederlage im Präsidentschaftswahlkampf mit Miloš Zeman gewidmet sind.

 

Der markante Platz, der Schwarzenberg am Ende des Buches eingeräumt wird, spiegelt in gewissem Maße die gesamte Wertekonzeption von Bahlckes Arbeit wider, die nicht zufällig mit Palackýs Geschichte von Böhmen und deren Programm eines deutsch-tschechischen Ringens und Miteinanders beginnt. Dieses in der ersten Ausgabe von Palackýs Geschichte wie auch in der Person des Politikers Schwarzenberg verkörperte Programm verbindet die Arbeit geistig zu einem Ganzen. Der traditionelle Topos von den böhmischen Ländern als Mittler zwischen Ost und West, der auch für Palackýs Konzeption der böhmischen Geschichte charakteristisch ist, findet nicht zufällig an exponierter Stelle – im Paratext auf der Rückseite des Buches – Erwähnung. Vielleicht ist gerade dies auch der Grund, warum Bahlcke trotz aller Verkürzung die mittelalterliche und neuzeitliche Geschichte mit solcher Plastizität darstellt, während die Nachkriegsentwicklung, in der sich die Linie der deutsch-tschechischen Beziehungen verliert, eher flach erscheint. Aufgrund seiner komplexeren Auffassung der mittelalterlichen und neuzeitlichen Geschichte – insbesondere im Hinblick auf die Herausbildung nationaler und regionaler Identitäten – ist der schmale Band jedoch eine willkommene Ergänzung und Alternative zu der (diesbezüglich) etwas einseitigeren und thesenhafteren Geschichte Čornejs und Pokornýs.

 

Übersetzung: Ilka Giertz

 

 

Joachim Bahlcke: Geschichte Tschechiens. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. München, C. H. Beck 2014, 128 S.


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