Es schreibt: Štěpán Zbytovský

(22. 8. 2016)

Eine Gefahr für die Forschung zur deutschsprachigen Literatur in den Böhmischen Ländern lauert im historischen Kontext des nationalen und kulturellen deutsch-tschechischen Mit- und Gegeneinanders. Von hier aus wird allzu oft ein Ausblick auf das mannigfaltige literarische Material geboten, in dem alles wie durch ein polarisiertes Licht beleuchtet erscheint; bestimmte Gegenstände und Zusammenhänge werden konturiert, während andere verflacht oder vollkommen unsichtbar werden. Obwohl die Fragen nach verschiedenartigen Phänomenen der Interkulturalität sowie den Identitätskonstruktionen zweifelsohne von eminenter Bedeutung gerade für die hiesigen literarischen Gefilde sind, wäre es falsch, das Forschungsinteresse nur auf sie zu beschränken oder sie zu jenem Angelpunkt zu erklären, der alle anderen Teilthemen dieses Gebietes bestimmt.

 

Eine jener Publikationen, die sich von Anfang an auf andere Bezüge und Wirkungen der deutschsprachigen Literatur in den Böhmischen Ländern konzentrieren, ist Nikola Mizerovás Dissertation Das Groteske in der deutschen Literatur aus den böhmischen Ländern 1900–1930 (Arco 2014). Sie sichtet und präsentiert ein zum großen Teil bisher nicht bearbeitetes Material – und stellt sich u. a. die Frage, wie zutreffend die wiederholten Behauptungen der Sekundärliteratur sind (etwa in Dieter Sudhoffs Vorwort zur Anthologie Prager deutsche Erzählungen oder in H. G. Adlers Die Dichtung der Prager Schule), dass insbesondere die Prager deutsche Literatur spezifisch mit der Kategorie des Grotesken verbunden sei. Mizerová zeigt an einem umfassenden Textkorpus von Autoren aus Prag, dem böhmischen Grenzland und Mähren sowie an der Geschichte der Gattungsbezeichnung „Groteske“, wie sie Karl Hans Strobl als einer der ersten verwendete, dass die Popularität des grotesken Stils wie auch der Gattung Groteske in den ersten drei Dekaden des 20. Jahrhunderts in keiner Weise von den Tendenzen im gesamten mitteleuropäischen Kontext abweicht, sondern vielmehr von einer engen Vernetzung der hiesigen Literatur mit diesem breiteren Kontext zeugt.

 

Einen kritischen Punkt des Buches stellt das theoretische Kapitel über das Phänomen des Grotesken in der Literatur dar. Eröffnet wird es mit einem Rückblick auf die Abhandlung Wolfgang Kaysers Das Groteske: Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung (1957) und fasst die dadurch entfachte kritische Diskussion zusammen. Obwohl sich die Verfasserin nicht zum Ziel setzt, das Groteske neu zu definieren, vermisst der Leser möglicherweise einen Zwischenschritt zwischen dem Referieren der kritischen Thesen gegen Kayser (oder auch der Argumente für anderweitige Auffassungen des Grotesken) einerseits und der Verwendung dieser Thesen im eigenen Text andererseits. So werden etwa die Kriterien nicht aufgezeigt, nach denen die Verfasserin mit Gerhard Mensching, Arnold Heidsieck und weiteren die Kayser’sche Konzeption als überholt bezeichnet – sei nun die unzureichende strukturelle Bestimmung des Grotesken oder Kaysers übergroße Akzentuierung der Rezeptionsperspektive (S. 15 u. 19) als Grund genannt. Es wird daher dem Leser überlassen, selbst zu ergründen, worin genau das Modell vorteilhaft ist, mit dem Mizerová arbeitet; zwar rechnet auch sie mit formalen Aspekten der Mischung und der Montage inkompatibler Elemente, doch sind thematische Aspekte für sie ausschlaggebend. An Stelle des Kayser’schen Begriffs der Entfremdung (bzw. der „entfremdeten Welt“) operiert sie – ohne diese Verschiebung näher zu erklären – im Anschluss an Heidsieck mit dem Begriff der „Pervertierung der Menschlichkeit“ bzw. „Pervertierung des Garanten des Wertesystems“.

 

Damit sind auch die ersten zwei von insgesamt vier thematischen Typen der Gattung der Groteske benannt, mit denen Mizerová arbeitet. Als weitere Typen werden die Konfrontation unterschiedlicher Weltbilder mit inkompatiblen Eigenschaften und die Aufdeckung der Banalität des Lebens festgelegt. Mit dem letzten bedeutenden Versuch einer systematischen, kulturwissenschaftlich verankerten Konzeption des Grotesken, nämlich mit Peter Fuß’ Buch Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels (2001), setzt sich Mizerová kaum auseinander; nur eine kritische Anmerkung über Fuß’ Verschmelzung der Begriffe des Grotesken und des Absurden deutet an, dass sie seine Definition als zu breit angelegt betrachtet. Manche Äußerungen der Autorin sind weder im unmittelbaren noch im breiteren Textumfeld vollkommen verständlich; beispielsweise wird die Tatsache, dass zur Gattung der literarischen Groteske vor allem kürzere Texte gerechnet werden, ohne weiteres damit begründet, dass „die Möglichkeiten des Grotesken beschränkt sind“ (S. 11).

 

Das zentrale und umfangreichste Kapitel der Dissertation befasst sich auf 110 Seiten mit literarischen Texten des vorab definierten Materialgebiets, die mehr oder weniger eindeutig als Groteske bezeichnet werden können oder sich selber als solche bezeichnen. Primär hier liegt die Bedeutung des Buches – nicht etwa dank der ausgeführten, von den vier genannten signifikanten Themenbereichen ausgehenden Typologie des Genres, obwohl diese eine gewisse Sortierung des gesamten Korpus bietet. Vielmehr besteht die Leistung darin, dass hier (halb) vergessene Texte und mitunter auch Autoren erinnert oder neu entdeckt und in rein literarischen (und bis auf Ausnahmen thematischen) Zusammenhängen diskutiert werden: So lässt sich Kafkas Verwandlung in ihrer grotesken Anlage mit Karl Brandls intertextuell verspielter Rückverwandlung des Gregor Samsa (1916) vergleichen, und quer über die Genrezuordnungen hinweg gehen die thematischen Vergleiche der Texte von Ernst Sommer (v. a. die Novellen Der Aufruhr, 1920 und Der Fall des Bezirksrichters Fröhlich, 1922), Walter Seidl (das Drama Wirbel in der Zirbeldrüse, 1930), des mährischen Kabarettisten Fritz Grünbaum, von Hans Natonek (der Erzählband Schminke und Alltag, 1927), aber auch von Max Brod (Gustav Mahlers dritte Symphonie, von ihm selbst dirigiert, 1907) und, möglicherweise etwas überraschend, auch von Rainer Maria Rilke (die Erzählung Frau Blahas Magd, 1899). Romane werden ebenfalls miteinbezogen, etwa Alfred Kubins Die andere Seite (1909) oder Ernst Weiß’ Nahar (1922). Gustav Meyrinks Golem wird als eine nicht-groteske Vergleichsfolie für die Ausführungen zu Franz Werfels Novelle Der Tod des Kleinbürgers (1925) herangezogen; der Ausschluss von Meyrinks Roman ist jedoch methodologisch fraglich. Begründet wird er nämlich mit der Unmöglichkeit, diesen Text einem der vier thematischen Typen zuzuordnen (S. 99), wobei in der Arbeit an keiner Stelle signalisiert wird, dass diese Typen die Begriffsextension des Grotesken lückenlos umfassen. Darin kommt einmal mehr die nicht gerade tragfähige theoretische Basis der Abhandlung zutage. Ein wichtiger Subtypus der dehumanisierenden Groteske, dem insbesondere im Kontext der Avantgarde und des Expressionismus Aufmerksamkeit gewidmet wird, ist die „Bürger-Groteske“, zu der neben Werfel auch Texte Fritz Mauthners und der aus Brünn stammende Richard Schaukal und Hans Flesch-Brunningen gezählt werden.

 

Im Kontext der grotesk pervertierten Darstellung allgemein anerkannter Garanten des Wertesystems befasst sich Mizerová mit der bemerkenswerten Erzählung Karl Hans Strobls Die olympische Köchin (1923), die über Goethes kleinlichen Kampf mit einer lästigen Köchin fabuliert. Diskutabel ist dabei allerdings, ob sich die Groteske von der Parodie dadurch unterscheiden lässt, dass sie „die Unfähigkeit der klassischen Kunst thematisier[e], die ethische Bildung des Menschen zu erzielen und dadurch die Moral zu garantieren“ (S. 131). Das der ‚phantastischen‘, zwei inkompatible Welten konfrontierenden Groteske gewidmete Unterkapitel bietet einen Vergleich zwischen Strobls und Meyrinks Erzählverfahren sowie anregende Beobachtungen zur Perspektivität des Humors bzw. des Lachens in ihren Erzählungen. Und schließlich findet man in den der grotesken Darstellung des Banalen gewidmeten Passagen Auseinandersetzungen mit den Chaplin-Texten von Melchior Vischer und Hans Natonek, die Banalität des bürgerlichen Familienmodells wird als Thema von Hermann Ungars Komödie Die Gartenlaube (1930) hervorgehoben.

 

Ein Exkurs zu einigen in den 1940er Jahren entstandenen Texten weicht von dem bis dahin verwendeten Konzept ab. Die Ausführungen über groteske Darstellungen der Zeit des Zweiten Weltkriegs liefern interessante Beobachtungen über die Texte Franz Werfels, Max Zweigs oder Ernst Feigls und kehren die therapeutische Funktion der grotesken Darstellung (karnevaleske Artikulation der grässlichen Ereignisse) wie auch die Bachtin’sche Bezwingung des Schreckens (S. 182) hervor. Eine derartige Verwendung des grotesken Stils versteht Mizerová als eine neue Epoche in der Geschichte des Phänomens. Allerdings geht sie hier primär von einem rezeptionsorientierten – vorher noch zurückgedrängten – Standpunkt aus.

 

Einige der von Mizerová angeführten Angaben sind irrig, manche könnten zwecks besserer Profilierung der entstehungs- und publikationsgeschichtlichen Zusammenhänge ergänzt werden – z. B. die Tatsache, dass Sommers Novelle Der Aufruhr ursprünglich im Warnsdorfer Verlag Eduard Straches erschienen ist, der eng mit der Geschichte des österreichischen Expressionismus verbunden ist (vgl. S. 67). Brods Mahler-Erzählung wurde nicht erst 1913, sondern bereits 1907 in der Schaubühne publiziert (vgl. S. 113), Vischers Quasiroman heißt nicht Sekunde durch Gehirn, sondern Sekunde durch Hirn (S. 157). Die bereits erwähnte positive Bedeutung des Buches, die im genauen Kartieren und ersten Ordnen des Materials zu sehen ist, wird dadurch jedoch nicht verringert.

 

 

Nikola Mizerová: Das Groteske in der deutschen Literatur aus den böhmischen Ländern 1900–1930. Wuppertal, Wien: Arco, 2014, 200 S.


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