Es schreibt: Jan Budňák

(Echos, 8. 8. 2016)

Die Bauern und die Grenzer

 

Es ist paradoxerweise denkbar, dass monothematische bzw. scheinbar monothematische Publikationen mit vielen MitverfasserInnen, die vom gegenwärtigen tschechischen Evaluierungssystem für die wissenschaftliche Produktion in den Kultur- bzw. Geisteswissenschaften gefördert werden, letzten Endes doch noch zur Relativierung von engen Fachparadigmen beitragen und transdisziplinäre Synthesen hervorbringen. Im Falle von Der tschechische und der deutsche Bauer im Spiegel der Belletristik 1848–1948. Ein Diskurs zwischen Historiographie und Literaturwissenschaft zum Thema des Bauern- und Grenzlandromans (hg. von Eduard Kubů, Jiří Šouša und Aleš Zářický; Dokořán und Universität Ostrava 2014, 745 S.) geht es um die Paradigmen, die sich aus der herkömmlichen Auffassung von Literaturwissenschaft als einer Summe von parallel existierenden Nationalphilologien ergeben, von denen jede für ähnliche Gattungs-, Themen- oder Handlungskonventionen jeweils abweichende Kategorien der Beschreibung verwendet. Diese Abweichungen können zum Teil durch objektive Unterschiede zwischen zwei „Nationalliteraturen“ und deren internem Wissenstransfer bedingt sein, zum Teil sind sie allerdings dem Kanonisierungseinfluss der Literaturkritik und der (Literatur-)Geschichtsschreibung geschuldet.  

 

Der Band Der tschechische und der deutsche Bauer im Spiegel der Belletristik setzt sich nahezu zu gleichen Teilen aus bohemistischen und germanistischen Beiträgen zusammen und kommt damit in gewisser Weise dem Versprechen gleich, eine Diskussion zwischen diesen Disziplinen zum Thema des literarischen Bildes vom Landleben der böhmischen Länder in der Zeit der Industrialisierung und der Nationalisierung der Provinz zu eröffnen. Die zweite Diskussion, die bereits im Untertitel der Publikation erwähnt wird, ist die Diskussion zwischen Historiographie und Literaturwissenschaft. Der Wunsch nach disziplinenübergreifender Diskussion spiegelt sich bereits in der Zusammensetzung des Herausgeber- und AutorInnenteams wider, dem sowohl HistorikerInnen, als auch GermanistInnen und BohemistInnen angehören. In der vorliegenden Rezension würde ich gerne auf die erste der beiden interdisziplinären Diskussionen näher eingehen. Der Band ist chronologisch in drei Teile gegliedert: Teil I: 1840er–1880er Jahre, Teil II: etwa 1885–1918, und Teil III: 1918–1948. Die einzelnen Teile werden durch breiter gefasste Einstiegskapitel eingeleitet, die man jedoch weniger als Einleitung denn als Panorama charakterisieren kann (Roman Holec zum mitteleuropäischen Bauernroman in Teil II) bzw. als Versuch, das anvisierte literarische Gebiet mit Hilfe exemplarischer Analysen abzustecken (Steffen Höhne zur deutschsprachigen Dorfprosa der Nachmärzzeit in Teil I, Karsten Rinas zur Entwicklung der Grenzlandliteratur in Teil III). Die meisten weiteren Kapitel befassen sich mit der Analyse einzelner literarischer Werke, die auf tschechischer Seite zum Dorf- bzw. Bauernroman gehören und mal in Hinblick auf das Nationale indifferent (Baar, Knap, Vrba), mal national konfrontativ sind (Čech, Stašek, Böser, Sokol-Tůma), auf deutscher Seite allerdings fast ausschließlich der national zugespitzten Gattung des Grenzlandromans zuzuordnen sind (Mauthner, Schott, Pleyer, Rothacker; die einzige Ausnahme stellt die Analyse von J. J. Davids mährischen Erzählungen dar). Diese ungleiche Gewichtung fällt auch deshalb auf, da die Einleitung des ganzen Bandes (vgl. S. 14–17 und 32–35) vom Gattungskontext der gesamten deutschsprachigen Literatur ausgeht und den Grenzlandroman nur als eine „spezifische Kategorie [definiert, die] dem Dorfroman untergeordnet“ (S. 25) sei. Ziemlich isoliert wirken schließlich zwei Beiträge, die keinen Bezug zur Literatur aus den böhmischen Ländern aufweisen (Roman Holec zum slowakischen und Žarko Lazarević zum slowenischen Bauernroman).

 

Die Umrahmung der Thematik wird wesentlich von der gut fundierten Einleitung zum ganzen Band übernommen (Begrifflichkeit – Forschungsstand – Historischer Kontext). Hier bieten Steffen Höhne, Eduard Kubů und Jiří Šouša zunächst einen Gesamtüberblick über die tschechisch- und deutschsprachige Literatur mit ländlicher Thematik, der die Gattungen Bauernroman, Dorfroman, Heimatroman oder Dorfgeschichte samt ihren tschechischsprachigen Entsprechungen umreißt. Die Autoren stellen fest, dass sich die Dorfliteratur dynamisch entwickelt hat, „und zwar grundlegend, in zeitlicher sowie in territorialer Hinsicht“ (S. 13). Dabei begegnen die Mitherausgeber einer „deutlichen Inkompatibilität scheinbar eindeutiger Begriffe, die sich auf unterschiedliche Entwicklungswege der tschechischen und der deutschen Nationalliteratur bzw. des territorial definierten Segments innerhalb der letzteren, das sich selbst als sudetendeutsch bezeichnet, zurückführen lässt“ (S. 23). Das markanteste Beispiel für diese Inkompatibilität wird in dem Abschnitt behandelt, der sich mit dem Phänomen und dem Begriff der Grenzlandliteratur beschäftigt. Höhne, Kubů und Šouša kommen in ihrer Einleitung zu dem Schluss, dass die „thematischen Analogien des Grenzlandromans“ (S. 28) in der tschechischen Literatur nicht durch den Begriff „Grenzlandliteratur“ bezeichnet werden können. Sie argumentieren, dass die Legitimierung des nationalen Kampfes in den tschechischen Romanen, die thematisch an der deutsch-tschechischen Sprachgrenze angesiedelt sind, sich von den deutschsprachigen Romanen „prinzipiell unterscheidet“, da sie den Charakter einer „selbsthelferischen ‚nationalen Verteidigung‘ und Emanzipation“ habe (ebda.). Darauf kann jedoch entgegnet werden, dass der Verteidigungstopos auch in der deutschsprachigen Grenzlandliteratur nahezu omnipräsent ist. Romantitel wie Stašeks Na rozhraní (dt. An der Grenze, 1908) oder Koudeláks Hraničáři (dt. Grenzleute, 1934) relativieren wiederum die Behauptung der Mitverfasser der Einleitung, die tschechischen Autoren hätten ihr „Mobilisierungsziel nicht plakativ als Signal der Romanabsichten dem Buchtitel bzw. -untertitel eingeschrieben“ (ebda.).

 

Diese Rezension bietet freilich nicht genug Raum, Alternativen zu der Auffassung vorzulegen und ausführlicher zu begründen, dass die tschechische Literatur bloß einige wenige kämpferische Grenzlandtexte abseits des „Hauptstromes der Nationalliteratur“ hervorgebracht habe, wo das ländliche Milieu sonst mehr oder weniger ästhetisch wertvoll und ideologisch gemäßigt geschildert wird, während in der „sudetendeutschen“ ruralen Prosa der aggressive Grenzlandfokus überwiege. Ich will nur anmerken, dass hier Ungleiches verglichen wird. Die Dorfprosa, so wie sie von Stašek oder Rais gepflegt wurde, entspricht typologisch viel eher den Texten von Ebner-Eschenbach, J. J. David, G. Leutelt oder etwa Fritz Jurditsch (Ein Dorfbürgermeister, 1927) als den auf nationalen Konfrontationskurs gehenden Grenzlandtexten. Dieser Systemfehler in der Konzeption des Bandes hätte dabei relativ einfach vermieden werden können: Entweder hätte man den Band wirklich auf die Schilderung des ländlichen Lebens, dessen Personal und Vorstellungswelt (wie dies im Titel angekündigt wird), oder eben auf die nationalen Konflikte in sprachlich und/oder territorial definierten Grenzräumen ausrichten können. Ideal wäre selbstverständlich eine kritische Auseinandersetzung mit beiden Phänomenen gewesen.

 

Abschließend möchte ich doch einen Vorschlag zur Überwindung der besagten „deutlichen Inkompatibilität“ zwischen den Konzeptualisierungen der (ländlichen) Peripherie in der tschechischen bzw. der „sudetendeutschen“ Literatur(-geschichtsschreibung) unterbreiten. Nähmen wir davon Abstand, einzelne Themenkreise (Landleben, Bauern, Nationen, Ethnien) mit Hilfe der unterschiedlichen Instrumente der Nationalphilologien herauszupräparieren, hätten wir einen viel direkteren Zugriff auf ihre Formate, ihre Kontinuitäten und Brüche. Im Tschechischen und deutschen Bauern sind solche komparatistischen Beiträge, die sich im „dritten Raum“ zwischen tschechischen und deutschen bzw. bohemistischen und germanistischen Konzepten bewegen, leider nicht sehr zahlreich. Der Beitrag von Hana Šústková und Aleš Zářický August Scholtis und Fran Směja – zwei Sichtweisen auf eine Region ist eher ethno-biographisch als komparatistisch konzipiert. Die Gültigkeit der Gattungsschemata des Bauern- und des Grenzlandromans samt ihren Überlappungen wird hingegen aufs Spannendste von Eduard Kubů und Jiří Šouša dargestellt, und zwar anhand der Romane „des authentischen Bauern Hugo Scholz“ (S. 477) Brunbacherleute und Noch steht ein Mann. Durch den Versuch, den nationalen Kampf als gattungsprägendes thematisches Kriterium der Grenzlandliteratur in Frage zu stellen, sticht Jörg Krappmanns Beitrag Interkulturalität in der Grenzlandliteratur. Am Beispiel des Bauernmilieus in Alois Fietz´ Roman Tote Scholle hervor. Dieser Text, dessen Anschaulichkeit leider durch die fehlerhafte Übersetzung ins Tschechische beeinträchtigt wird, argumentiert zum einen gegen eine der Prämissen des ganzen Bandes, nämlich dass es eine eindeutige Zuordnung der Grenzlandliteratur zum Dorfmilieu gebe: „Auf der deutschen Seite sind Werke der Grenzlandliteratur, die einen Bauern im Mittelpunkt hätten, kaum zu finden.“ (S. 184) Zum anderen erfasst er, überraschend interkulturell, das Spezifische der (seltenen) Grenzlandromane, die im Dorfmilieu spielen, wodurch er (wie auch Karsten Rinas in seinem Mauthner-Beitrag) das generelle scharfe Urteil über die Gattung relativiert: „Die Hochachtung vor der Aufbau- und Modernisierungsleistung der Tschechen ist in der Grenzlandliteratur, die zugleich der Kategorie des Bauernromans angehört, viel deutlicher als in anderen Werken [der Grenzlandliteratur im Allgemeinen]“ (S. 182). Schließlich wird in Krappmanns Beitrag die Frage gestellt, die den ganzen Band über den Tschechischen und deutschen Bauern hindurch nur sehr partiell beantwortet wird, und zwar danach, „[...] welchen Wert die Grenzlandliteratur in Böhmen und Mähren für zwischenethnische Konflikte außerhalb [der böhmischen Länder] hat“ (S. 184). Die Suche nach diesem Wert kann sich allerdings kaum auf der selektiven Analyse einzelner Texte gründen, sondern nur auf einer kohärenten Interpretation des ganzen Phänomens, quer zu den Gattungsschablonen der einzelnen Nationalliteraturen und historiographischen Traditionen.   

 

 

Český a německý sedlák v zrcadle krásné literatury 1848–1948. Diskurz mezi historií a literární vědou na téma selského a hraničářského románu. [Der tschechische und der deutsche Bauer im Spiegel der Belletristik 1848–1948. Diskurs zwischen Historiographie und Literaturwissenschaft zum Thema des Bauern- und Grenzlandromans.] Eds. Eduard Kubů, Jiří Šouša a Aleš Zářický. Praha, Dokořán – Ostrava, Ostravská univerzita v Ostravě 2014, 745 S.


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